Dieter Schütz

Die Sozialstaatsmentalität in Ostdeutschland und ihre Folgen

Manche ehemaligen DDR-Bürger sehen sich noch immer als Verlierer der Einheit

Zwölf Jahre nach der deutschen Einheit ist immer noch nicht zusammengewachsen, was nach den Worten Willy Brandts zusammengehört: Die Einkommen zwischen Ost und West haben sich seit 1991 zwar deutlich angenähert. Doch die Stimmung unter den Ostdeutschen ist mies. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beläuft sich in den neuen Ländern nur auf 67 Prozent des Westniveaus. Beim Wirtschaftswachstum geht die Schere wieder auseinander. Ein sich selbst tragender Aufschwung hat sich bisher nicht eingestellt. Die statistische Arbeitslosigkeit ist im Osten mehr als doppelt so hoch wie im Westen. Und das alles, obwohl Milliardensummen von West nach Ost geflossen sind.

Aber nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, auch in der Mentalität tun sich zwischen Ost und West noch erhebliche Unterschiede auf. Der polnische Politologe Jerzy Mackow, der an der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder lehrt, macht die Sozialstaatsmentalität dafür verantwortlich, dass sich viele als Verlierer der Wiedervereinigung sehen. Seine These, dass der Sowjetmensch in den neuen Bundesländern weiterlebt, begründet er mit dem Erbe von 40 Jahren Realsozialismus in der DDR. Eigenverantwortung war über Jahrzehnte hinweg ein Fremdwort. Die Allmacht des Staates DDR war allgegenwärtig.

Die Sowjetmenschen, so Mackow, "erwarten vom Staat, dass er ihre Existenz sichert und ihr ganzes Leben organisiert. Sie sind unfähig, das eigene Schicksal in die Hände zu nehmen." Für Mackow war es ein großer Fehler, dass das westdeutsche Wohlfahrtsmodell nach der Wende sofort auf den Osten übertragen wurde: "Der bundesdeutsche Sozialstaat garantiert zwar dem Bürger keine Arbeit. Aber er garantiert einen in der DDR unbekannt hohen Lebensstandard. Viele Menschen wurden nach dem Umbruch 1989/90 nicht unter Druck gesetzt, um sich von ihren sozialistischen Einstellungen zu trennen."

Das ist auch der große Unterschied, den der polnische Politologe im Vergleich zu mittel- und osteuropäischen Ländern ausmacht. Dort seien die Menschen ins eisige Wasser der Marktwirtschaft geworfen worden. Millionen Menschen, die diese ökonomische Schock-therapie erfolgreich überstanden, hätten Schritt für Schritt Verantwortung für immer neue Bereiche ihrer Gesellschaft übernommen. Er nennt das Beispiel Estland: Dort gab es Anfang der 90er-Jahre eine Inflationsrate von bis zu 1000 Prozent. Heute habe Estland eine der härtesten Währungen. "Deshalb wissen die Esten sehr wohl, was sie in zehn Jahren erreicht haben. Sie sind vielleicht noch nicht zufrieden damit. Aber sie haben keinen Grund, in Minderwertigkeitskomplexe zu verfallen."

Mackow zieht auch noch einen anderen Vergleich heran: In einem Jahrzehnt haben 16 Millionen Ostdeutsche beinahe zwei Billionen Mark als Transferleistungen vom Staat erhalten. Er rechnet vor, dass diese Summe gut zweimal so viel wie das jährliche Bruttosozialprodukt von Weißrussland, der Ukraine, Polen, Tschechien, Ungarn, der Slowakei, Slowenien, Litauen, Lettland und Estland zusammen ausmacht. In diesen Ländern leben allerdings nur rund 130 Millionen Menschen. Und noch ein Beispiel: Der Geldtransfer von West- nach Ostdeutschland entspricht einem Umfang, "als würde Polen mit seinen 40 Millionen Einwohnern jedes Jahr in etwa sein gesamtes Bruttosozialprodukt geschenkt bekommen".

Realsozialismus

Bei vielen Ostdeutschen stößt Mackow mit seiner Analyse allerdings auf Unverständnis. "Wer sich in der DDR so richtig als Sowjetmensch gefühlt hat und dies auch heute noch so sieht, dürfte schon vor 50 Jahren zu den absoluten Minderheiten in ostdeutschen Landen gezählt haben", schreibt ein Leser der "Sächsischen Zeitung" in Dresden. Applaus für seine umstrittenen Thesen erhält Mackow dagegen von dem Publizisten Rolf Schneider, ebenfalls ein Ostdeutscher. "Vier Jahrzehnte Realsozialismus waren vier Jahrzehnte Entmündigung. Individualgefühl und Selbstbehauptungswillen wurden dabei so gründlich ausgetrieben, dass es jetzt, da man darauf zurückgreifen müsste, bloß Leere gibt", schreibt Schneider in der Tageszeitung "Die Welt". Und weiter: "Die Gemütsverfassung der Leute zeigt sich so miserabel, ihr Klagen so anhaltend und ihr Verhalten so lethargisch, als befänden sie sich noch inmitten der Ära Honecker."

Auch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" kommt zu dem Ergebnis: "Der Sozialismus hat gesiegt." Die Kultur der Gleichmacherei, des Proletarischen und des Antikapitalistischen hat sich laut FAZ in einem Maß in die Köpfe und Herzen vieler Ostdeutscher eingesenkt, "wie es im beschwerlichen Alltag der DDR-Zeit nicht vorstellbar gewesen wäre". Kulturell sei die DDR allgegenwärtig, obwohl es diesen Staat seit zwölf Jahren nicht mehr gibt.

Doch inwieweit lässt sich die von Mackow und anderen beschriebene Sozialstaatsmentalität auch empirisch nachweisen? Von nackten Wirtschaftszahlen einmal abgesehen, ist ein Ost-West-Vergleich schwierig. Empirisches Material über die unterschiedlichen Lebenseinstellungen und Mentalitäten in Ost und West ist nur unzureichend vorhanden.

Wenn der polnische Politologe davon redet, dass es "bis heute viele Sozialismus-Gläubige in den neuen Bundesländern" gibt, dann scheinen ihm aber zumindest die Wahlergebnisse der vergangenen Jahre Recht zu geben: Im Osten Berlins holte die SED-Nachfolgepartei PDS bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus im Oktober 2001 fast jede zweite Stimme. In den ostdeutschen Flächenländern sind die "Sozialismus-Gläubigen" von solchen Wahlergebnissen zwar weit entfernt. Doch auch dort hat die PDS in den vergangenen Jahren als einzige Partei permanent an Wählerstimmen zugelegt. In Sachsen ist sie mit 22,2 Prozent der Stimmen im Landtag zweitstärkste Fraktion hinter den Christdemokraten (56,9 Prozent) und weit vor der SPD mit 10,7 Prozent.

Eines steht außerdem ebenfalls fest: Der Staatssektor spielt im Osten im Vergleich zum Westen eine viel bedeutendere Rolle. Das lässt sich auch an Zahlen festmachen. Zwar ist die Anzahl der Staatsbediensteten in den neuen Ländern seit 1991 drastisch zurückgegangen. Gemessen an der Einwohnerzahl ist sie im Osten jedoch nach wie vor höher als in den alten Flächenländern. In Sachsen etwa kommen 23,5 Staatsdiener auf 1000 Einwohner. Im Durchschnitt der alten Länder sind es 20,6. Bayern kommt sogar mit 18,6 Stellen aus.

Auch bei der Versorgung mit Kinderkrippen und Horten steht der Osten nach wie vor weitaus besser da als der Westen. In der Altersgruppe bis unter drei Jahren kamen im Jahr 1998 in den westlichen Bundesländern 2,8 Plätze auf 100 Kinder, in den neuen Ländern waren es im Durchschnitt 36,3. In der Altersgruppe der Drei- bis Sechseinhalbjährigen liegt der Schnitt im Westen bei 86,8 Plätzen, im Osten bei 111,8 Plätzen je 100 Kinder. Die Mentalität, schon Kleinkinder frühestmöglich in der Krippe und damit in staatlicher Obhut abzuliefern, hat sich aus DDR-Zeiten bis heute erhalten.

Inzwischen haben die neuen Bundesländer nicht zuletzt aufgrund ihres großen öffentlichen Sektors gewaltige Schuldenberge aufgetürmt. Der Freistaat Sachsen etwa hat bereits nach zehn Jahren die in mehr als 50 Jahren aufgelaufene Pro-Kopf-Verschuldung Bayerns weit übertroffen. Sachsen steht aber immer noch besser da als die anderen ostdeutschen Länder.

Fazit: Auch wenn die These vom Sowjetmenschen überzogen und sehr stark von einem Pauschalurteil geleitet ist, so hat sie doch einen wahren Kern. Der Sozialstaat und die dominierende Rolle des Staates sind als Erbe der DDR im Bewusstsein vieler Ostdeutscher tief verankert. Vor allem für die jüngere Generation gilt dieser Befund allerdings kaum. Viele sind mobil und flexibel, suchen sich einen Ausbildungsplatz oder einen Job im Westen. Mackow selbst sieht eine Lösung der Mentalitätsfrage im Generationenwechsel: "Nur ist das keine Frage von zehn Jahren. Dieser Prozess muss zwei Generationen dauern, also rund 50 Jahre."

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